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Fakultät für Humanwissenschaften

Kausalität ist der Kern des Verstehens

19.11.2019

Wie Menschen lesen, lernen und Texte verstehen: Das erforscht der niederländische Psychologe Paul van den Broek. Für seine Arbeiten hat ihm jetzt das Institut für Psychologie den Oswald-Külpe-Preis 2019 verliehen.

Paul van den Broek (Mitte) hat den Oswald-Külpe-Preis 2019 erhalten. Die Auszeichnung überreichten Tobias Richter (l.), geschäftsführender Vorstand des Instituts für Psychologie, und Roland Deutsch, stellvertretender geschäftsführender Vorstand des Instituts.
Paul van den Broek (Mitte) hat den Oswald-Külpe-Preis 2019 erhalten. Die Auszeichnung überreichten Tobias Richter (l.), geschäftsführender Vorstand des Instituts für Psychologie, und Roland Deutsch, stellvertretender geschäftsführender Vorstand des Instituts. (Bild: Dr. Darius Endlich)

Die Klage ist bekannt: Je stärker digitale Medien den Alltag der Menschen bestimmen, desto weniger lesen diese. Zu stimmen scheint sie nicht. Tatsächlich kommen viele Expertinnen und Experten zu dem Schluss: Wer digitale Medien nutzt, liest so viel, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit zuvor gelesen wurde. Wenn sich Schüler auf Wikipedia Wissen aneignen, wenn Kollegen per E-Mail Informationen austauschen, wenn Menschen im Internet Informationen recherchieren, Nachrichten auf Twitter posten oder auf dem Reader einen Roman zum Vergnügen lesen: Noch immer stehen dabei Texte im Vordergrund, und viele kognitive Aktivitäten des Menschen sind mit einem Textverständnis verknüpft.

Forschung am Lesen, Lernen und Verstehen

Lesen, Lernen und das Verstehen von Texten: Mit diesen Themen hat sich Paul van den Broek jahrzehntelang wissenschaftlich auseinandergesetzt. Van den Broek ist Professor für kognitive und neurobiologische Grundlagen von Lernen und Lehren und Direktor des Brain and Education Lab der Universität Leiden (Niederlande). Für seine Arbeiten hat ihn jetzt das Institut für Psychologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) mit dem Oswald-Külpe-Preis 2019 ausgezeichnet. Van den Broek erhielt die Auszeichnung im Rahmen eines Festakts am 8. November offiziell verliehen.

Einfluss weit über die Fachgrenzen hinaus

Van den Broek verbinde „experimentelle Grundlagenforschung zum Lesen, Lernen und Textverstehen mit anwendungsbezogenen Fragen, etwa wie man solche Lern- und Verständnisvorgänge verbessern kann“, sagte Vizepräsidentin Barbara Sponholz in ihrem Grußwort. Dabei untersuche, identifiziere und beschreibe er die kognitiven und neurologischen Strukturen und Prozesse, die beim Lernen und Lesen von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter eine Rolle spielen, und leite daraus Implikationen für wirksame Diagnose- und Interventionsinstrumente bei Lern- und Leistungsproblemen ab. „Ihre Theorien hierzu haben weit über die Fachgrenzen hinaus großen Einfluss und sind insgesamt ein herausragendes Beispiel für nutzeninspirierte psychologische Grundlagenforschung“, so Sponholz.

Kausalität ist der Kern des Verstehens

Auch Professor Tobias Richter, Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie IV der JMU und geschäftsführender Vorstand des Instituts für Psychologie, würdigte in seiner Laudatio van den Broeks wissenschaftliche Arbeiten. Ein Großteil dieser Forschung dreht sich um die Frage, wie Menschen kausale mentale Modelle konstruieren, wenn sie Geschichten oder Informationstexte lesen. „Kausalität ist nicht nur der ‚Zement des Universums‘, sondern auch das Hauptstrukturprinzip der meisten Texte, das beispielsweise Ereignisse in einer Erzählung oder Elemente wissenschaftlicher Erklärungen miteinander verbindet“, so Richter. Daher sei das Erfassen von kausalen Zusammenhängen der Kern des Verstehens.

Während seiner Karriere habe Paul van den Broek eine Reihe von theoretischen Modellen vorgeschlagen, die sich mit den kognitiven Mechanismen des Verstehens befassen. Von ihm stammt das „Landschaftsmodell des Lesens“ – ein Computermodell, das nach Richters Worten zu den wichtigsten Theorien in der Psychologie des Textverständnisses gehört. Es liefere eine genaue Darstellung des Zusammenspiels von passiven, textgetriebenen, gedächtnisbasierten kognitiven Prozessen einerseits und aktiven, vom Leser initiierten, strategischen Prozessen andererseits.

Grundlagenforschung mit Blick auf die Anwendung

„Experimentelle Grundlagenforschung, aber immer mit Blick auf mögliche Anwendungen“: So klassifizierte Richter die Forschung van den Broeks. Wie schon Sponholz, betonte auch Richter, dass van den Broeks Arbeiten großen Einfluss auf die Praxis haben. So hätten sie zur Entwicklung evidenzbasierter Interventionen und diagnostischer Maße geführt, die eingesetzt werden können, um „schwachen Lesern, insbesondere solchen, die mit Verständnisprozessen höherer Ordnung Probleme haben“, zu helfen. Darüber hinaus habe er als Mitglied der internationalen Expertengruppe für PISA wichtige Beiträge zur Gestaltung des Teils der Lesekompetenz dieser großen Bildungsstudie geleistet.

Dementsprechend beendete Richter seine Laudation mit den Worten: „Der Oswald-Külpe-Preis wird an Wissenschaftler vergeben, die nachweislich hervorragende Leistungen in der experimentellen Erforschung höherer mentaler Prozesse erbringen. Professor van den Broek erfüllt dieses Kriterium wie kaum ein anderer“.

Fakten zum Oswald-Külpe-Preis

Oswald Külpe (1862-1915) gründete 1896 das Würzburger Psychologische Institut und ging als Vater der „Würzburger Schule der Denkpsychologie“ in die Wissenschaftsgeschichte ein. Die Vertreter dieser Forschungsrichtung waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten, die höhere geistige Prozesse wie das Denken, Wollen und Urteilen experimentell untersuchten.

Zur Erinnerung an ihn vergibt das Institut seit 2005 den mit 4.000 Euro dotierten Oswald-Külpe-Preis im Turnus von zwei Jahren. Ins Leben gerufen wurde der Preis vom inzwischen emeritierten Würzburger Psychologie-Professor Fritz Strack: Er stiftete ihn durch eine Zuspende zur Sparkassenstiftung der Stadt Würzburg.

Bisherige Preisträger

Die bisherigen Oswald-Külpe-Preisträger sind Asher Koriat (Universität Haifa, 2005), Richard E. Nisbett (University of Michigan, 2007), Michael Tomasello (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig, 2009), Wolfgang Prinz (Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig, 2011), Anke Ehlers (Universität Oxford, 2013), Norbert Schwarz (University of Michigan, 2015) und Jan Born (Universität Tübingen, 2017)

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