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    Konzept

    Themenkomplex HDC 2014-2016: Aufmerksamkeit und Bewusstsein

    Konzept

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    AG: Andreas Göbel, Jörn Müller, Andreas Nießeler, Andreas Rauh, Heiko Reuß, Gerhard Schad, Holger Schramm

    Aufmerksamkeit und Bewusstsein sind grundlegende Konzepte der Psychologie und der Philosophie des Geistes, die in zahlreiche natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Felder wie z.B. Pädagogik und Sonderpädagogik, Kommunikations- und Medienwissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie abstrahlen. Sie besitzen eine hohe kognitive und praktische Relevanz, insofern sie mit Prozessen der Selektion und der Fokussierung verknüpft sind, die dynamisch zwischen Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit flottieren. Es handelt sich um kontinuierliche Schwellenphänomene mit graduellen Abstufungen, deren jeweilige Grenzen sich gerade im digitalen Medien- und Informationszeitalter permanent zu verschieben scheinen. Qualitative Bewusstseinsänderungen werden u.a. in Vigilanz-Stufen beschrieben (von Ohnmacht bis zu extremer Wachheit). Gefordert ist sowohl eine Auslotung ihrer grundlegenden begrifflichen und phänomenalen Gehalte – auch und gerade in ihrem Verhältnis zueinander – als auch die Untersuchung ihrer variablen Erscheinungsformen auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene, nicht zuletzt im Blick auf ihre potenziellen ethischen Dimensionen.

    Begriffliche, phänomenologische und psychologische Grundlagen

    Sowohl für Aufmerksamkeit als auch für Bewusstsein sind als grundlegende Charakteristika Intentionalität und Gradualität zu nennen: Durch ihre Ausrichtung auf Objekte der Außen- und Innenwelt teilen die Phänomene auf subjektphilosophischer Ebene elementar das wesenhafte Merkmal der Intentionalität (F. Brentano). Ihr jeweiliger intentionaler Gehalt, ihr (repräsentationaler) Modus sowie ihre genaue Ausrichtung („direction of fit“) sind aber noch genauer im Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu analysieren (v.a. wenn nicht nur intentionale, sondern auch sensorische Zustände zugriffsbewusst sein können). Wie ist das Verhältnis zwischen beiden Größen zu bestimmen? Gibt es eine konstitutive Interaktion oder bloß akzidentelle Wechselwirkungen zwischen ihnen? Zu prüfen wäre hier auf phänomenologischer Basis u.a. die Rolle der Wahrnehmung (M. Merleau-Ponty) als möglichem Schlüssel- bzw. Brückenphänomen, das mit beiden in Verbindung zu stehen scheint.

    Welche Funktion hat unsere Bewusstsein – im Sinne einer uns berichtbar zugänglichen phänomenalen Repräsentation von Reizen – bei der Steuerung unseres Verhaltens? Traditionell wurden vor allem kognitive Kontrollprozesse, wie die Auswahl einer Handlung unter verschiedenen Handlungsalternativen, stark mit willentlichen Entscheidungen assoziiert, denen bewusste Repräsentationen zugrunde liegen. Diese Bewusstseinspflichtigkeit wird jedoch durch aktuelle experimentalpsychologische Forschungsergebnisse in Frage gestellt. So konnte gezeigt werden, dass maskierte, unbewusst dargebotene Reize genauso wie sichtbare Reize zu entsprechenden Verhaltens- und Verarbeitungsanpassungen führen. Aufmerksamkeit ist dabei ein Mechanismus, der durch Selektion bestimmter Stimuli in der Umwelt deren Bewusstwerdung im Organismus begünstigt. Die Orientierung des Aufmerksamkeitsfokus kann wiederum entweder durch einen endogenen, willentlichen Prozess ausführt werden, oder automatisch durch externe, potenziell handlungsrelevante Reize erfolgen. Hier stellt sich z.B. die Frage, ob endogene Aufmerksamkeitsverschiebungen unbewusst induziert werden können, obwohl dieser Prozess introspektiv stark intentionalen Charakter hat.

    Über diese auf das Individuum fokussierten Dimensionen von Aufmerksamkeit und Bewusstsein hinaus ist auch noch ihre sozialphilosophische Dimension zu bedenken. Die Ausdehnung des Konzepts der Intentionalität auf gemeinschaftliches Handeln und Wollen in der jüngeren Forschung (z.B. von R. Tuomela, H.-B. Schmid und U. Baltzer) legt die Frage nahe, ob unsere alltägliche Redeweise vom „öffentlichen Bewusstsein“ bzw. von „öffentlicher Aufmerksamkeit“ mehr als eine reine façon de parler ist und auf kollektive Träger (auch und insbesondere in digitalen Kommunikationswelten) verweist. Die schwellenhafte Gradualität der beiden Phänomene, die auf individueller und auf sozialer Ebene sichtbar ist, wirft u.a. folgendes grundlegendes Problem auf: In welcher Form ist ihre Steuerung möglich – und inwieweit kann man diese z.B. im Falle der bewussten Beeinflussung von außen (etwa in Form von Werbung) noch als ethisch legitim betrachten? Hier geht es auch um die für unser Handeln, Denken und Fühlen strukturierende Funktion von Aufmerksamkeit und Bewusstsein, insbesondere in ihrer zeitlichen Dimension.

    Medien, Kommunikation und Manipulation

    In unserer Informations- und Mediengesellschaft spielen medial evozierte Aufmerksamkeitssteuerung und Bewusstseinsbildung eine unübersehbare Rolle. Beispielhaft seien zwei Bereiche herausgehoben, die in jüngster Zeit besonders intensiv beforscht werden.

    Mediales Präsenzerleben: Mediennutzer blenden den medialen Ursprung bzw. die mediale Vermitteltheit des wahrgenommenen Angebots (zeitweilig) aus und erleben das Mediengeschehen so unmittelbar, als wenn sie selbst körperlich im Geschehen beteiligt wären. Diese räumliche Präsenz wurde in den letzten Jahren im Zuge des Aufkommens interaktiver und virtueller Medienumgebungen verstärkt erforscht. Präsenz kann als Vermittler und Verstärker Vorstellungen bzw. Einstellungen gegenüber Entitäten und Themen aus den Medienumgebungen prägen und somit Kultivierungs- und Persuasionseffekte verstärken. Um Präsenz zu erleben, konstruieren die Rezipienten zunächst ein mentales Modell der mediatisierten Umgebung mittels automatischer und kontrollierter Aufmerksamkeitsprozesse. Während die automatische Aufmerksamkeitsfokussierung vom Medium angeregt wird, geht die kontrollierte Aufmerksamkeitsgenerierung von den Rezipienten aus und wird durch diese intentional gesteuert. In den meisten Mediennutzungssituationen besteht wohl eine Mischung aus automatischer und kontrollierter Aufmerksamkeitssteuerung – je nach Art und Fähigkeiten des Mediennutzers. Das führt zu Fragen nach der Art der Aufmerksamkeitssteuerung und ihren medienspezifischen Effekten. Welche Rezipienten sind für welche Art der Aufmerksamkeitssteuerung empfänglich bzw. welche individuellen Fähigkeiten, Dispositionen und Persönlichkeitseigenschaften lassen die eine oder andere Art der Aufmerksamkeitssteuerung wahrscheinlicher werden?

    Product Placement (PP): Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren begannen Firmen ihre Produkte in Hollywoodfilmen zu platzieren. Die weltweiten Ausgaben für PP gehen in die Milliarden US-Dollar. Seit 2010 ist PP nun in Kino- und Fernsehfilmen sowie Serien, Sportprogrammen und leichten Unterhaltungsprogrammen prinzipiell möglich und damit legal. PP in Kinderprogrammen und Sendungen zum aktuellen Zeitgeschehen bleibt weiterhin strikt untersagt. In der öffentlichen Debatte über PP wird die Sorge um eine unbewusste Beeinflussung der Zuschauer deutlich. Auch in der wissenschaftlichen Debatte herrschen Unsicherheit und Uneinigkeit bezüglich des Bewusstseins und der Fähigkeit der Bevölkerung zum reflektierten Umgang mit PP. Studien haben jedoch gezeigt, dass PP die Zuschauer in ihren Urteilen über programmintegriert-platzierte Produkte und Marken beeinflusst, ohne dass sich die Zuschauer an die jeweiligen PP erinnern können – durchaus ein Beleg für eine Form der unbewussten Beeinflussung. Wirkt PP also umso besser, desto weniger Aufmerksamkeit die Produktplatzierungen bei der Rezeption generieren und desto weniger bewusst diese Informationen verarbeitet werden? Und geht es für die Unternehmen dann darum, die Produkte möglichst unauffällig und „natürlich“ in den medialen Handlungsablauf einzubinden? Haben auf der anderen Seite die Mediennutzer tatsächlich eine gewachsene Lebenskompetenz bzw. hinreichend Persuasionswissen, um sich von dieser Beeinflussung frei zu machen? Ist die Wirkung von PP umso größer, desto mehr diese Werbeform von den Mediennutzer akzeptiert wird? Und wenn dem so wäre, wie wären die momentane rechtliche Situation und die vermeintlichen gesellschaftlichen Wirkungen zu bewerten? Welche Rolle hat das Bewusstsein als unterschiedlich ausgeprägtes Wissen um das, was „sein soll“ oder was „gut“ ist, bei der Absteckung des Bereiches der Moral, des Ordnungsbereichs der Bedeutungen?

    Entwicklung und Veränderung von Aufmerksamkeit und Bewusstsein

    In zeitkritischer Perspektive lassen sich verschiedene Aufmerksamkeitskulturen unterscheiden: auf der einen Seite eine durch Schriftlichkeit und Literalität geprägte deep attention, und auf der anderen Seite die Dynamik einer fluktuierenden hyper attention, die charakteristisch für mediale Informationsgesellschaften ist. Auch der Verlust stabilisierender Bewältigungspraktiken ist charakteristisch für die postmoderne Sensationsgesellschaft (Ch. Türcke). In diesem Kontext wird der für die europäische Moderne prägende Grammatisierungsprozess, also die Aufmerksamkeit für und durch Schriftlichkeit, als Pharmakon deutbar. Dies führt zum einen zu Aufklärung und Mündigkeit, erzeugt aber auch Nebenwirkungen, die den Verlust von Welterfahrungen und damit nach B. Stiegler den Umschlag in eine Aufmerksamkeit zerstörende Psychomacht bewirken können.

    Damit rücken auch jene Kulturtechniken in den Blick, welche die Grundlage für die Entwicklung von Rationalität, nach Hegel geradezu von Bildung, sind. Es eröffnet sich eine geschichtliche Dimension des Aufmerksamkeitsphänomens, in die sowohl die spezifischen historischen Formierungen von Kulturen des Bewusstseins als auch unter der Perspektive der Macht die Ein- und Ausblendungen dieser Bildungen kognitiver und ästhesiologischer Stile sowie deren Herstellungs- bzw. Erhaltungstechniken eingehen. Welche körperlichen, sinnlich-ästhetischen und welche kulturell-geschichtlichen Bezüge konstituieren das Verhältnis von Aufmerksamkeit und Aufmerken, von Aufmerksamsein und Aufmerksamwerden? Wie gestaltet sich der Zusammenhang von Bewusstseinsinhalten und dem Wissen um diese Inhalte? Welche Techniken der Selbstaufmerksamkeit und bewussten Selbstkultivierung spielen dabei eine Rolle? Wie sind in diesem Kontext Phänomene der Aufmerksamkeitsstörung zu deuten? Für die (Sonder-)Pädagogik ist die Entwicklung des Bewusstseins von Bedeutung, insbesondere des Selbstbewusstseins des Subjekts im Hinblick auf seine Identitätsgenese und auf sein Vermögen, die eigenen mentalen Zustände zu begreifen. Hier spielt das phänomenale Bewusstsein eine zentrale Rolle im Sinne der Selbstauslegung und Selbstkonstitution des Subjekts. In sonderpädagogischem Kontext ergeben sich daraus in Bezug auf Schwerst- und Mehrfachbehinderung existenzielle anthropologische Fragestellungen und Problematiken.